Karwaiten

Karwaiten | Memeller Dampfboot Nr.2 Januar 1969 S.22-23 Diese Historie ist alt und traurig. Wir werden von Karwaiten erzählen, einem von zwanzig Dörfern, die unter den Dünen der Nehrung begraben sind. Wir werden Auszüge aus alten Chroniken und Urkunden, hinterlassen von Zeugen der Tragödie, lesen.

„Im Jahre 1509 am Mittwoch nach Maria Himmelfahrt hat der Komtur von Memel, Bruder Michel von Schwaben verkünden die ältesten schriftlichen Quellen dem Benedikt Langerfeld die Kruggerechtigkeit in Karwaiten erneuert, wonach ihm der Krug und alles Vermögen ohne Beschwernis be­lassen werden. Außerdem werden ihm die Wiesen zwischen Schwenzeln und Windenburg, eine halbe Meile von Birkenfeld, zur Nutzung verschrieben . Es wird ihm das Recht der freien Fischerei in der See und im Haff gewährt, soviel, wie seine Leute es nutzen können, mit Ausnahme des Aalfanges. Der Jahreszins beträgt sechs gewöhnliche Mark. 1510-1520 zahlt Karwaiten sieben und eine halbe Mark Zins. Offenbar waren neben dem Kruge noch einige Gehöfte vorhanden. Im Jahre 1541 erreicht der jährliche Zins 43 Mark und 30 Schilling. Zum ersten Mal werden genaue Einwohnerzahlen ge­nannt. Es sind neunzig Menschen, darunter elf Fischer und fünf Halbfischer. Die Häuser eines Fischers und eines Halbfischers stehen leer – sagen die Urkunden. Offenbar hat die Verwehung begonnen. Zu jener Zeit reisten durch Karwaiten viele Leute. Über die Nehrung verlief die Straße von Marienburg nach Riga. Der Krüger nahm viele Reisende auf. In der Rechnungslegung der Kirche von Kunzen (einem später verwehten Dorfe hinter Rossitten) vom 5. Juni 1569 wird ange­geben: In Karwaiten leben 19 Fischerfami­lien, drei Halbfischer und vier Knechte. Zu der Zeit waren im Dorfe auch Äcker. Jeden dritten Sonntag kam nach Karwaiten der Pfarrer von Kunzen und hielt in der Kapelle Gottesdienst. Im Kruge wurden beim Becher Bier alle Geschäfte des Dorfes beraten: Wer den Pastor holen wird, wer die Post fortbringen soll.

Das alte Karwaiten dehnte sich an der jetzigen Karwaitenschen Bucht, an der Haff­seite nördlich des Ziegenhakens zwischen Perwelk und Preil. Wir wälzten die ältesten bibliographischen Seltenheiten, suchten lange nach genaueren Angaben über das weitere Schicksal des al­ten Dorfes. Wir fanden sie dort, wo wir es am wenigsten gehofft hatten: in den Schuldenregistern. Eine Schuld ist keine Wunde, sie heut nicht. Nicht ein einziges Brett ist bis auf unsere Tage von Karwaiten erhalten geblie­ben, doch die Schulden sind noch sorgfältig mit allen Einzelheiten und Umständen in den amtlichen Registern in Memel einge­tragen: „Auf der Westseite ist der Wald schmäler und lichter geworden. Der Sand kann frei rinnen. Aus diesem Dorfe werden 16 Mark 30 Schillinge geschuldet wegen der sechs verwehten Höfe. Im Jahre 1614 schlagen dieselben Schuldurkunden Alarm: Im Herbst sind es schon 15 leere Gehöfte! Später, in den Jahren 1641-1642, berichten die Schuldenregister: Es sind nur der Krug und ein Fischerhaus übrig geblieben.

Auch die Kapelle ist verweht Ob in dem einen Fischerhaus und im Kruge einige Familien lebten oder ob der Schuldenregistrator sich geirrt hat, wissen wir nicht. Doch später finden wir diese Eintragung: „Im Jahre 1658 besaßen drei Fi­scherfamilien ein Pferd, sieben Kühe, vier Haffkähne, 1,5 Zugnetze und schuldeten dem Amt 18 Mark und 2 Schillinge Zins und leben schlecht. Das alte Karwaiten war ausgestorben. Anfang des 18. Jhr. siedelte das Dorf nach Süden um, barg sich im Schutze des Waldes. Als Hartnäckigster erwies sich der Krüger: er verließ das verwehte Dorf als letzter. 1737 wird in Neu-Karwaiten eine Kirchenschule errichtet, nach einem Jahr auch die Kirche selbst mit dem Pastorat. Das Dorf wurde am Haffufer angelegt, an einer moosi­gen Stelle, zwischen Gebüschen. Auch an der neuen Stelle erfreuten sich die Ankömmlinge aus Alt-Karwaiten nicht lange der Ruhe. Es vergingen keine dreißig Jahre, und wieder begannen die Dünen zu wandern. Das Dorf leerte sich. Sehr wertvolle Urkunden über Karwaiten hat der Pfarrer des Dorfes David Friedrich Zudnochowius hinterlassen. Das ist eine interessante Persönlichkeit. Der künftige Pastor wurde im Jahre 1763 geboren, un­gefähr gleichzeitig mit Neu- Karwaiten. Sein Geburtsort ist Jazischken. Zudnochowius nahm aktiv am öffentlichen Leben in Ostpreußen teil. Er, Dozent des litauischen Se­minars an der Königsberger Universität, erlernte die Iitauische Sprache, wird Dolmetscher.

Nach Karwaiten kam Zudnochowius im Alter von 28 Jahren. Der neue Pastor sorgte sich sofort um das Schicksal des Dorfes. im Jahre 1765 schreibt er der Obrigkeit nach Memel über die für Karwaiten heraufziehende Gefahr: „Es ist traurig, daß die Kirche, das Pastorat und die Schule, und ebenso das ganze Dorf wegen der im vorigen und auch in diesem Jahr fast unaufhörlich wehenden Weststürme zur Gefahr des Verwehens ver­urteilt sind.“ In seinem Brief ruft er um Hilfe, leider vergebens. Die Natur selbst erbarmt sich des Dorfes. Es begannen Ostwinde zu wehen. Die Dünen kommen zum Stehen, die Menschen beruhigen sich. Pastor Zudnochowius erneuert die Kirche, läßt sogar daneben einen Stall errichten. Die späteren Berichte des Pastor Zudno­chowius an seine Obrigkeit in Memel werden zur Chronik der Tragödie des Dorfes. Am 17. August 1771 : „Man muß befürchten, daß das ganze Pastorat in kurzer Zeit verweht werden wird, denn die häufigen Nord- und Weststürme haben einen großen Sandberg zusammengeweht, der sich nähert und unlängst die höchsten das Pastorat schützenden Bäume verweht hat. Die Düne ist einige Schritte vom Pastorat.

Am 30. März 1776: Nach dem letzten, 24 Stunden wehenden Nordweststurm, hat der Sand fast das Dach des Pfarrhauses erreicht.“ Diese Chronik hat Friedrich Mager in seinem Buche „Die Entwicklung des Landschaftsbildes der Kurischen Nehrung fortge­setzt. Der Autor schreibt: „Am Abend noch hatte Zudnochowius die Fensterläden an der Westseite geschlossen, und am nächsten Morgen waren sie verweht und öffneten sich niemals mehr. Ein Protokoll aus jener Zeit konstatiert: „In diesem verwehten Hause kann man nicht mehr leben, ohne das Leben zu riskieren.“ Es wurde Sommer. Immer war noch keine Rede vom Bau eines neuen Pfarrhauses. Der Hausherr wird hier noch den ganzen Win­ter verbringen müssen. Mit den zur Hilfe gerufenen Gemeindemitgliedern grub der Pfarrer von der Westseite den Sand fort und stellte einen hohen winkelförmigen Zaun auf, dessen Spitzen zu der bedrohlich sich nähernden Düne gerichtet waren. Die naiven Leute glaubten, Pfarrhaus und Kirche vor der gänzlichen Verwehung schützen zu können. Vergebens! Die Einwohner von Karwaiten unterlagen im Kampf mit der Natur. Der Sand verwehte fast das ganze Haus des Pfarrers. Es verblieb nur ein einziges Zimmer, in dem er noch immer lebte. Nach drei Jahren, 1779, konnte auch die Kirche selbst nur noch durch den Glockenturm betreten werden. Die Gemeindemit­glieder fürchteten sich, beten zu gehen.

Der Sand hatte die Tür und die Wände eingebogen und drohte jeden Augenblick mit dem todbringenden Einbruch. Nach einem Jahr starb Zudnochowius. Die Gottesdienste hörten auf. Der Winter des Jahres 1791 entschied das Schicksal des Dorfes. Es war ein schlimmer Winter, stürmisch, kalt, ohne Schnee. Es blieben nur vier bewohnte Gehöfte übrig. Die andern Häuser verwehte der Sand, zer­störten die Stürme. Die Menschen bargen sich, wo sie nur konnten. Nach einigen Jahren verzogen die meisten Einwohner von Karwaiten. Sie zogen nach Nidden, Schwarzort Neegeln. Beim Kruge blieben nur der Präzentor Bernhard und zwei Fischer wohnen. 1797 vertrieb der Sand die letzten Karwaitener. Das Schwinden von Neu-Karwaiten spiegelt sich in der Verringerung der Schülerzahl genauestens wieder. Die Schullisten geben an:

1781 – 28 Schüler, 1785 – 13, 1788 – 9,
1791 – 6 Schüler, 1795 – 2 und 1797 kein einziger.

Zwanzig Jahre vor der Verwehung des Dorfes, 1776, wurde in einer Karwaitener Fischerfamilie Ludwig Rhesa geboren, der bedeutendste aus diesem Dorfe stammende Mann. Der Professor und Poet Rhesa ist der erste Herausgeber von Donelaitis. Jahreszeiten und von litauischen Volksliedern. Er selbst dichtete in deutscher Sprache. Lange wütete auf der Nehrung der Sand, wanderten die Dünen. Viermal sogar zog sich vor ihm von Stelle zu Stelle Neegeln zurück. Viermal holte die Wanderdüne das. Dorf ein, verwehte es viermal. Der Sand verwehte die alten Dörfer Sandkrug, Schwarzort, Perwelk, Pillkoppen, Predin und Lattenwalde sind ganz verschwunden. Zu der Zeit, als die Dünen zahlreiche Siedlungen eine nach der anderen begruben, fand 1768 in Danzig ein für das Schicksal der ganzen Nehrung bedeutungsvoller Wettbewerb darüber statt, auf welche Weise man am wirkungsvollsten und billigsten die wan­dernden Dünen festlegen könnte. „Die Dünen müssen bepflanzt werden!“ Diese Idee äußerte der Rektor der Universität Wittenberg, Professor Johann Daniel Titius. Es verging ein halbes Jahrhundert. 1811 begann der dänische Forstmann Sören Björn mit der praktischen Arbeit. Zu allererst wur­de die Fläche zwischen Cranz und Sarkau bepflanzt. Nach einigen Jahren begannen die Anpflanzungsarbeiten auch in der Umgebung von Nidden.

Aus „Das versunkene Dorf“ | Prof. Ludwig Rhesa

Weile, o Wanderer, hier und schaue die Hand der Zerstörung! Wenige Jahre zuvor sah man hier blühende Gärten und ein friedlich Dorf mit seligen Wohnern und Hütten, lief vom Walde herab bis zu des Meeres Gestade. Aber anjetzt, was siehst du? Nur bloßen Boden und Sand. Wo ist das friedliche Dorf, wo sind die blühenden Gärten? Neben dem Wald im Dunkel und Grau’n vieljähriger Eichen stand die Kirche des Dorfes, geziert nach älterem Volksbrauch, rings von Grabeshügeln umdrängt der friedlichen Toten. Sieh, dort ragt eine Spitze hervor, gerötet vom Spätlicht! Hier versank die Kapelle, doch rettete man die Geräte und den heiligen Altar. Traurig erzählt der Sohn dem Enkel, was hier geschehen, weist die Stätte ihm noch, wo seine Väter gewandelt. Tief versank ihr Gebein, und droben grünet kein Frühling.